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Die Welt der Illusionen

Der Mensch sollte sich nicht mit dem begnügen, was er im Leben bereits erreicht hat. Besser sollte er stets darauf bedacht sein, wie es weiter gehen und wie schließlich sein Ende sein wird. Denn was wahrlich zählt ist, wie ein Mensch am Ende ist. Was nützt es einem, wenn man Anfang glücklich ist, am Ende aber unglücklich? Wahrlich glücklich schätzen kann sich derjenige, der am Ende glücklich ist. Nicht umsonst heißt es ja in einem Sprichwort, „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“.

 

Der Khalif Harun Rashid ist nicht nur ein berühmter Herrscher, der die Geschichten von Tausend und Eine Nacht ausschmückt, sondern er hat wirklich gelebt und sein Leben war keineswegs ein Märchen. Khalif Harun Rashid ist in der Tat eine historische Persönlichkeit, der uns durch sein Leben viele Geschichten zum Nachdenken geschenkt hat.

 

Wenn wir schon angefangen haben, über Harun Rashid zu sprechen, dann sollten wir auch mit ihm weiter machen und eine seiner vielen Geschichten erzählen, die uns vielleicht in unserem Leben weiterhelfen kann.

 

Eines Tages ging der Khalif Harun Rashid auf die Jagd. Dabei entfernte er sich, ohne es zu bemerken, von seinen Begleitern, bis er schließlich neben seiner Gefolgschaft auch seinen Weg verloren hatte. Er verirrte sich mitten in der Wüste und hatte weder zu trinken noch etwas zu essen bei sich. Harun Rashid ritt mit seinem Pferd mal in diese, mal in jene Richtung, aber vergebens – nicht die leiseste Spur von seinen Freunden. Der Durst des Khalifen wurde allmählich unerträglich.

 

Als der große Khalif, Herrscher über viele Ländereien, kurz vor der Verzweiflung stand, erblickte er in der Ferne eine schwarze Silhouette. Der Khalif, der zuerst an eine Fata Morgana dachte, erkannte je mehr er sich der schwarzen Silhouette näherte, dass er ein schwarzes Beduinenzelt sah.

 

Als Harun Rashid am Eingang des Zeltes angekommen war, rief er: „O ihr Bewohner des Zeltes, ein Glas Wasser!"

 

Zunächst war im Zelt nichts zu hören, dann ein Rascheln und schließlich trat langsam eine sehr alte Frau hervor, die so alt war, dass sie eigentlich bereits hätte gestorben sein müssen. Sie sprach mit zitternder Stimme: „O du Befehlshaber der Gläubigen, o du großer Herrscher! Was möchtest du?“ Der Khalif antwortete: „O alte Frau! Sag, was kann jemand schon verlangen, der sich in der Wüste verlaufen hat und vergebens den ganzen Tag seinen Weg gesucht hat? Natürlich Wasser. Geh und bring mir sofort ein Glas Wasser, sonst sterbe ich noch vor Durst.“

 

Die alte Frau erwiderte ihm: „O großer Sultan, möge Wasser alles sein, was du verlangst. Ich werde es dir umgehend bringen. Wie du aber weißt, befinden wir uns in einer trockenen Wüste und Wasser ist hier sehr wertvoll. So wirst du einen Preis bezahlen müssen, bevor ich dir dein Wasser bringe.“

 

Der Khalif war verblüfft über die Habgier der alten Frau. Noch nie zuvor hatte es jemand gewagt, mit dem Khalifen auf diese eine Art und Weise zu sprechen. „O Frau,“ sagte Harun Rashid voller Empörung, „wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen, obwohl du doch auf eine eigenartige Weise weißt wer ich bin. Ich bin der Sultan und Khalif dieses Landes, Harun Rashid. Geh und bring mir sofort ein Glas Wasser.“

 

Die alte Frau begegnete dem Zorn des Khalifen mit Gleichmut und sagte: „O Khalif, mag sein, dass du in Bagdad Khalif bist, aber wisse, du bist es weder hier in dieser Wüste noch in meinem Zelt. Selbst wenn du der Sultan vieler Länder bist, dann bin doch ich Sultana dieses Zeltes und ich erlaube dir nicht, auch nur einen Schritt in mein Zelt zu wagen. Es liegt an mir, ob ich dir ein Glas Wasser gebe. Denke nicht, dass du es dir mit Gewalt erobern kannst. Allah, der Herr sieht uns. Allerdings weißt du nicht, was ich im Gegenzug für ein Glas Wasser von dir verlange. Denn es ist nicht das, was du denkst.“

 

Die alte Frau war in der Tat keine gewöhnliche Person. Sie hatte die Gedanken des Khalifen gelesen und demgemäß gesprochen.

 

Und tatsächlich hatte sich der Khalif in jenem Moment gedacht, dass die alte Frau angesichts seiner Verzweiflung viel Gold und Geld von ihm verlangen würde. „Nein!“, fuhr die alte Frau fort. „Das, was ich von dir will, ist etwas ganz anderes. Im Gegenzug für dieses Glas Wasser wirst du mir all deine Jahre geben, in denen du als Khalif geherrscht hast. Das ist der Preis für das Wasser!“

 

Als der Khalif diese Worte vernahm, wusste er nicht wie ihm geschah. Noch nie zuvor in seinem Leben war ihm so ein Preis genannt worden. Nachdem er sowohl aufgrund seiner Verwunderung als auch wegen der Trockenheit seiner Lippen für eine Weile geschwiegen hatte, blickte er auf das Wasser, das die alte Frau ihm reichte, und sagte: „O alte Frau! Verlangst du von mir die Herrscherjahre, die ich schon erlebt habe, oder verlangst du von mir die Jahre, die ich noch als Herrscher erleben werde?“

 

Die alte Frau antwortete: „Die Jahre, die du noch vor dir hast, gehören erst dann dir, wenn du sie erlebt hast. Ich verlange von dir nur die Jahre, die du bereits erlebt hast. Sag, wie lange bist du schon Khalif?“

 

Harun Rashid erwiderte: „Ich bin seit genau vierzig Jahren Herrscher.“ Dann sprach die alte Frau: „So gib mir nun diese vierzig Jahre und nimm im Gegenzug dieses Glas Wasser.“ Auf dieses Verlangen der alten Frau hin, spielten sich in einem Augenblick die vierzig Jahre, in denen Harun Rashid geherrscht hatte, vor seinem inneren Auge ab. Mit Entsetzen stellte er fest, dass die großen vierzig Jahre in nur einem Augenblick verflogen waren. In jenem Moment verstand der Khalif die Angelegenheit. Die Frau, die so alt war, dass sie schon hätte tot sein müssen, verlangte von Harun Rashid eigentlich gar nichts. Denn vierzig Jahre, die problemlos in nur einen Augenblick passen, haben in Wahrheit keinen Wert. Daran erinnerte die alte weise Frau den Khalifen.

 

So sagte der Khalif, der die Weisheit verstanden hatte: „Einverstanden, o alte Frau. Möge es so sein, wie du verlangst. Die vierzig Jahre meiner bisherigen Herrschaft sollen dein sein. Wohl bekomm’s."

 

Dann sprach die alte Frau: „Ich nehme sie an. Nimm du nun dein Wasser und trinke es mit innerer Zufriedenheit. Wohl bekomm‘s. Aber wisse, o Khalif! So wie die vierzig Jahre deiner Herrschaft, die du mir geschenkt hast, so wird auch der Rest deines Lebens wie Wasser durch deine Finger rinnen. Du kannst dich dem nicht widersetzen. Alles was du unternehmen würdest, wäre vergebens. Am Ende wird deine ganze Herrschaft zu Nichts werden.

 

Gestatte noch eine Frage, o Khalif! Vierzig Jahre deiner Herrschaft hast du gegen ein Glas Wasser eingetauscht. Ein Glas Wasser war dir also soviel wert. Was wirst du nun dafür geben, dich vom Druck des getrunkenen Wassers auf deine Blase zu befreien? Wie ich bereits sagte, das hier ist mein Gebiet und ohne meine Erlaubnis kannst du nirgendwohin gehen, um deine Blase zu entleeren.“

 

Angesichts dieser Frage verzweifelte der Khalif nun völlig. Jetzt hatte er vollkommen verstanden, dass die Person ihm gegenüber kein gewöhnlicher Mensch war. Am Boden zerstört, sagte Harun Rashid: „O Frau! Natürlich würde ich die andere Hälfte meines Lebens und meiner Herrschaft hergeben, um mich von diesem Druck zu erlösen. Habe ich denn überhaupt eine andere Möglichkeit?“

 

Daraufhin sagte die alte Frau: „Wenn dem so ist, o großer Khalif! Möge Macht und Herrschaft dich niemals hochmütig machen. Denn wer mit geschlossenen Händen in diese Welt kommt, verlässt sie mit geöffneten Händen. Du kannst an nichts festhalten. Zweifellos wird alles, was du in dieser Welt in die Hände bekommst, wie Wasser durch deine Hände fließen. Daher schaue nicht auf das, was du in die Hände bekommst, sondern schaue auf dein Herz. Der größte Besitz und das wahre Königreich eines Menschen ist in seinem Herzen verborgen. Dieses Reich ist der Glaube des Menschen. Wisse, wer in den Glauben eintritt, wird Herrscher seiner Selbst. Das einzig wahre Reich, das niemals zugrunde geht, ist der Glaube im Herzen.

 

Wer Herrscher eines Reiches werden will, das einmal Trinken und einmal „Pinkeln“ überdauert, muss behüten, was in seinem Herzen ist. Er muss dieses Reich des Glaubens mit seiner ganzen Kraft gegen äußere und innere Einwirkungen beschützen und versuchen über die Feinde des Herzens zu siegen, damit das Reich des Glaubens wächst und sich ausbreitet. Denn wahre Herrschaft wird durch Beherrschung des Herzens erlangt. Mit dieser Herrschaft öffnete Jesus die Augen der Blinden, teilte Moses die Meere und belebte Muhammed - Friede sei mit ihnen allen - die toten Herzen. O Khalif! Bedenke meine Worte und lebe entsprechend!“

 

Nachdem die alte Frau gesprochen hatte, zog sie sich wieder in ihr Zelt zurück und ließ den Khalifen allein mit seinen Gedanken.
Als Harun Rashid nach langer Zeit tiefer Versenkung seinen Kopf wieder hob und um sich schaute, konnte er weder das Zelt noch die Frau erblicken. Vor ihm lag nur die leere Wüste! Der Khalif, rieb sich die Augen und überlegte voller Verwunderung, ob all das erlebte echt oder nur eine Fata Morgana war. Aber wäre alles nur eine Fata Morgana gewesen, wie hätte dann sein Durst verschwinden können? Dieses Erlebnis Khalif Harun Rashids verursachte große Veränderungen in seinem Leben und seiner Spiritualität. Und mit dieser Geschichte erinnert uns Harun Rashid daran, in unserem Leben ebenfalls Änderungen vorzunehmen und unsere Fehler zu berichtigen.

 

Wir müssen wissen, dass wir in Wahrheit kleine Fische sind, die in einem riesigen Ozean leben. So sehr wir uns auch bemühen, wir können lediglich einen winzigen Schluck dieses riesigen Ozeans in unseren Mund nehmen. Warum dann dieser blinde Eifer? Wir müssen darüber nachdenken. Die Geschichte wurde erzählt, um uns zum Nachdenken anzuregen.

 

In Seinem Heiligen Buch sagt der Herr, dass diese Welt ausschließlich aus Lügen und Illusionen besteht. Warum sagt der Herr das? Zur Warnung, damit wir von dieser Welt nicht betrogen und getäuscht werden. Wer glaubt, dass diese Welt echt ist, ist ein Schlafwandler. So jemand lebt hinter dem Vorhang des Unwissens, zwischen Schlaf und Wachsein.

 

Ohne seinen Kopf vorher irgendwo anzustoßen oder vorher über irgendetwas zu stolpern, wacht so jemand nicht auf. Und wenn er aufwacht ist es oft zu spät, weil er schon gestorben ist und er vor der Wahrheit wie vor der Sonne.

 

„Die Menschen schlafen. Wenn sie sterben, wachen sie auf,“ sagt der gesegnete Prophet Mohammed, der Friede sei mit ihm. So ein Erwachen aber hat keine Ehre. Es ist wichtig zu erwachen, bevor man stirbt.

 

Nun, was aber beweist, dass die Welt nur aus Lügen und Illusionen besteht? „Gestern“! Das „Gestern“ stellt dem „Heute“ einen Spiegel vor und sagt: „Auch ich schien wie du, real zu sein. Jeder dachte ich wäre echt und versuchte mich auszuleben. Sieh, was aus mir geworden ist. Jetzt existiere ich nur noch in Erinnerung und Vorstellung.“ So beweist „Gestern“ das „Heute“ nur eine Illusion ist.

 

Worauf können wir dann in der Welt vertrauen? Auch der Atheist, der sagt, er glaube nur an das, was er mit seinen Augen sehen kann, muss letztendlich zur Vernunft kommen und erkennen, dass diese Welt nur eine Illusion ist, wenn er einsieht, das „Heute“ zu „Gestern“ wird. In dieser Welt ist nichts beständig. Alles muss vergehen und zu Illusion werden. Alles, was in Erscheinung tritt, wenn seine Zeit gekommen ist, verschwindet wieder aus der Erscheinung, wenn seine Zeit vorüber ist, und wird zu einer Illusion. Am Ende verschwindet sogar die Illusion selbst und gerät in Vergessenheit.

O ihr Leute! Wenn in dieser Welt nichts real ist, womit rühmen sich dann die Menschen und behaupten, jemand zu sein? Was immer der Status einer Person in dieser Welt sein mag, am Ende wird dieser Status verschwinden so wie das „Heute“. Denn man besitzt nur heute einen Status und wenn dann der Morgen in Erscheinung tritt, so verschwindet dieser Status und aus dem Status bleibt dann höchstens Statuen von ’Steinköpfen!’ als Erinnerung an ein Gestern und an deine Intelligenz.

 

Wenn dann die Leute von heute die sehen rufen sie: `... schaut mal, das sind die berühmten Steinköpfe, die dachten sie wären die ewigen Könige und die Unsterblichen!

 

Daher rühme dich nicht damit, was du in dieser Welt gemacht hast, o Mensch! So lange dein Bemühen nicht für den Herrn ist, ist es vergebens. Wer der Welt hinterher rennt, wird wie eine Seifenblase platzen. Viele sogenannte große Menschen hat die Welt gesehen. Wo sind sie jetzt? Auf dem Friedhof! Wer sagt, ich bin jemand, wird am Ende auf dem Friedhof landen. Vor euch haben Tausende, Millionen, Milliarden, Trilliarden Leute das gleiche behauptet: Ich bin jemand. Ich bin der Sultan. Ich bin der König. Ich bin der Wesir. Ich bin der Pascha. Ich bin der Kanzler. Ich bin der Chef ...

 

Wo sind sie jetzt, in welchen Zustand befinden sie sich jetzt? Fragt sie, mal schauen ob sie euch aus ihrem Grab eine Antwort geben werden. Nehmt die Schaufel in die Hand und öffnet ihre Gräber. Schaut nach ob ihr jemanden findet, der immer noch behauptet, jemand zu sein! Nein! Was sollte man schon unter der Erde anderes finden als Würmer.

 

Eine Geschichte:
Behlül Dana war ein großer Sufi und Seelenfreund des Khalifen Harun Rashid. Er war so gut mit dem Khalifen befreundet, das er, wann immer er wollte, in den Palast gehen durfte.

 

Eines Tages ging er in Abwesenheit Harun Rashids in den Palast und setzte sich auf den leeren Thron. Dabei stellte er sich vor, was für ein Gefühl es wäre, Herrscher zu sein. Gerade als er so richtig in seinen Träumen versunken war, kamen die Palastwachen herein und sahen Behlül Dana auf dem Thron sitzen. Sofort rissen sie ihn von dort herunter und verprügelten ihn ordentlich. Nachdem er verprügelt worden war, fing Behlül Dana an zu weinen.

 

In diesem Moment kehrte der Khalif Harun Rashid in seinen Palast zurück und fragte was vorgefallen war. Daraufhin berichteten die Palastwachen, dass Behlül Dana auf den Thron gestiegen war, woraufhin sie ihn verprügelt hatten. Harun Rashid, der über das Weinen seinen geliebten Freundes traurig war, sagte: „Das ist doch Behlül. Hat er jemals ein Auge auf weltliches gehabt?

 

Warum sollte er auf den Thron steigen wollen? Sicherlich liegt Weisheit im dem, was er gemacht hat.“

 

Daraufhin sagte Behlül Dana zum Sultan: „O mein Sultan, siehe und wisse, ich habe mich nur für ein paar Augeblicke auf den Thron gesetzt und schon habe ich Prügel kassiert. Dabei waren es nur paar Minuten und ich hatte mir nur vorgestellt, wie es wohl wäre ein Herrscher zu sein. Aber ich weine nicht wegen meines Zustands. Ich weine darüber, wie wohl dein Zustand morgen sein wird, wie sehr du im Jenseits wohl verprügelt werden wirst.“

 

Also hüte dich davor anzunehmen, dass du niemals sterben wirst und niemals zur Rechenschaft gezogen wirst, nur weil du heute auf dem Thron sitzt. Bilde dir nicht ein, jemand zu sein, nur weil du für ein paar Jahre König bist, sonst wirst du in der Gegenwart des Herrn, der der einzige Sultan ist und dem die wahre Herrschaft gehört, verprügelt werden und dann schmerzhaft erkennen, dass du Nichts bist.

 

O ihr Leute, wisset! Die ganzen Enttäuschungen des Lebens sind lediglich verborgene Schläge. Schläge, die uns verpasst werden, damit wir aus unseren Illusionen wieder in die Realität zurückfinden.

 

Wer das verstanden hat, braucht nie mehr weinen.