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Moses und seine Frage

Möge der Herr uns über die Wahrheit sprechen lassen. Wer auf der Fährte der Wahrheit ist, ist ein Jäger der Weisheit.

 

Wer einmal in die Ozeane der Wahrheit eingetaucht ist, der bedarf nicht mehr der Badewanne, Becken oder Seen. Denn nun ist er ein Meisterschwimmer, der in keinem Gewässer, keinem Ozean ertrinkt.

 

In welchen Ozean er auch eintaucht, jeder wird ihm zu klein sein und er wird sagen: “Gibt es keinen größeren, keinen tieferen?”

 

Die Menschen fragen nicht mehr nach dem Wissen, sondern nach der Weisheit. Denn in diesem Jahrhundert ist das Wissen reichlich überall erhältlich.

 

Die Weisheit jedoch ist wie ein Juwel. Für sie musst du in die Tiefen eintauchen und Schalen durchbrechen. So wie einst Moses, auf dem der Friede sei. Denn Moses war ein Jäger der Weisheit und ein Prophet der unmittelbar zum Herrn sprach.

 

Eines Tages als Moses wieder einmal mit dem Herrn sprach, da fragte er Ihn:
“Ya Malik’el-mülk! O Du, dem das Reich der Erde und der Himmel gehört!

 

Du bist der allwissende Herr und mit Deinem Wissen umfasst Du alles. Ich meinerseits bin nur ein schwacher, unfähiger Diener, den du durch Dein Wissen erschufst und mit deiner Liebe formtest.

 

Nur das, was du mir durch deine Göttliche Gunst lehrst, weiß und verkünde ich. Ich selbst besitze kein eigenes Wissen. Ich habe viele Frage über die Existenz, da es sich mir aber nicht ziemt, schäme ich mich davor, sie Dir zu stellen. Wen soll ich jedoch außer Dir fragen? Daher erbarme Dich meiner und gewähre mir die Lösung meiner Fragen, o Du Barmherziger.”

 

Als Moses sich vor seinem Herrn auf diese Weise demütigte, da antwortete Er ihm:
“O Moses! Schäme dich nicht! Frage! Es ist das Recht der Unwissenden, die Wissenden zu fragen, um zu lernen.

 

Zweifelsohne bin Ich der Wissende über allen. Was wüssten die Menschen schon, wenn Ich nicht Ursachen erschuf, die sie zum Nachdenken bringen?

 

Sprich, o Moses! Kann das Spätere über das Vorherige Bescheid wissen? Wisse, dass jedes Wissen dem Nachfolger nur vom Vorgänger gelehrt werden kann. Der Nachfolger kann nicht selbstständig Wissen erlangen. Er bedarf des Vorgängers. Deshalb, o Moses, stelle deine Fragen, damit du lernst. Aber wisse, dass jede Frage entsprechend der Absicht eine Antwort erhält.”

 

Moses, der vom Herrn diese Antwort empfing, freute sich sehr. Sofort warf er sich vor Dank nieder und sprach:

 

“O Herr, bei all Deinen Werken gibt es etwas, das mich am meisten fasziniert. Warum erschaffst du dieses erstaunliche Universum und den Menschen spirituell und materiell auf wunderbarste Art und Weise mit tausend und einer Stickerei und versiehst alles mit einer Ordnung, um später alles wieder zu vernichten?
Wie mit einer Stricknadel kreierst Du die feinsten und schönsten Stickerein und trotz so viel Mühe zerstörst Du alles zu einem gewissen Zeitpunkt. Hast Du die Existenz erschaffen, um sie zu vernichten? Was ist die Weisheit dahinter?”

 

Dem Herrn der Welten solch eine Frage zu stellen, ziemt sich nicht jedem. Dafür bedarf es nicht des Mutes, sondern der Göttlichen Nähe.

 

Der Allmächtige antwortete daraufhin:
“O Moses, wahrlich hast du diese Frage nicht aus Unachtsamkeit oder aus deiner Lust heraus gestellt, sondern um über die Geheimnisse und Weisheiten zu erfahren.
Nicht aus Trotz, sondern um der Wahrheit Willen fragst Du. Andernfalls hättest du nämlich meinen Zorn zu spüren bekommen.

 

O Moses, ich weiß, dass du Mich nicht aus Eigennutz fragst, sondern damit auch dein unwissendes Volk dieses Geheimnis erfährt. Denn du kennst ja ohnehin die Wahrheit und die Weisheit.

 

Mit deiner Frage bittest du mich voll Anstand um die Rechtleitung deines Volkes. Und meine Antwort lautet: ich bevollmächtige dich mit ihr.

 

Sonst wärst du weder mit solch einer Frage zu Mir gekommen, noch hätte Ich dir solch eine Antwort gegeben. Denn wer seinem Herrn ein wahrer Diener ist, wird von Ihm geführt werden, so dass die Wahrheit zu seiner Zunge, mit der er spricht, zu seinen Augen, mit denen er sieht, und zu seinen Ohren, mit denen er hört, wird.

 

O Moses, einschließlich dir fragt oder handelt keiner meiner Propheten und Heiligen aus ihrem eigenen Willen heraus. Denn ihr Wissen und ihre Weisheit empfangen sie von der Wahrheit.

 

Alle Taten der Propheten und Heiligen dienen dafür, dass das Volk davon lernt. Deshalb entspricht der Wille Meiner wahren Diener dem Willen der Wahrheit. Sowohl ihre richtigen als auch falschen Taten zeugen von Wahrheit und sind dafür da, damit das Volk lernt.

 

O Moses! Um deines Volkes Willen fragst du mich, warum ich zum einen erschaffe und zum anderen wieder vernichte?

 

O Moses! Hast du jemals eine Rose ohne Dornen gesehen?

 

So wie die Rose und die Dornen aus der gleichen Erde heranwachsen, so entspringen auch Irreführung und Rechtleitung bzw. Unglaube und Glaube der gleichen Quelle, und zwar dem Herzen.

 

Du fragst nach den Gründen des Daseins und des Nichtseins. So wie es die Rose nicht ohne Dornen gibt, so existiert kein Dasein ohne Nichtsein.

 

Wisse, wo ein Dasein existiert, gibt es zweifellos auch ein Nichtsein. Denn das Nichtsein ist der Spiegel des Daseins. Das Dasein kann sich ausschließlich im Spiegel des Nichtseins betrachten.

 

Schaue dir diese Welt an. Gibt es auf ihr nur Arme oder nur Reiche?

 

Warum gibt es Arm und Reich gleichzeitig? Das Dasein kann nur im Verhältnis des Nichtseins existieren, so wie es reich nur im Verhältnis zu arm gibt.

 

O Moses! Hebe deinen Kopf und blicke zum Himmel. Dort wirst du einerseits winzige und andererseits riesige Objekte sehen. Ohne klein könnte man groß nicht erkennen.
Jedoch, o du verständiger und demütiger Moses, gehorche zunächst Meinem Wort, auf dass dir die Weisheit deiner Frage zuteil wird und deine Antwort erhältst.

 

Deshalb gehe sofort los und säe Weizen. Dann wirst du die Weisheit hinter deiner Frage verstehen.”

 

Auf Befehl seines Herrn hin säte Moses umgehend den gewünschten Weizen.

 

Als nach einer gewissen Zeit der Weizensamen aufgegangen waren, erntete Moses den Ertrag. Denn er wollte ja nicht, dass all seine Mühe umsonst war.

 

In Wirklichkeit säte Moses nicht Weizensamen, sondern er säte seine Geduld, und er erntete das, wonach er verlangte. Denn die Geduld verhält sich wie der Samen und geht erst nach einer bestimmten Zeit auf.

 

So wie alles Schöne durch Geduld erlangt wird, so wird in Wirklichkeit jede wahre Antwort ebenfalls durch Geduld erhalten.

 

Mag sein, dass der Geduldige zunächst im Dunkeln verharren muss, aber schon bald wird sich sein Weg eröffnen und erleuchten. Deshalb sagten die Weisen, wer wartet, wird erkennen.

 

Jede Antwort ist ein Wissen. Wer nach Wissen verlangt, der muss den Samen der Geduld säen, damit sich sein Wunsch erfüllt.

 

Kehren wir nun zu unserer Geschichte zurück.
Wie wir schon sagten, säte Moses ohne zu Zögern den gewünschten Samen und erntete nach gewisser Zeit den Ertrag. Daraufhin trennte er die Spreu vom Weizen.

 

In diesem Moment vernahm Moses die Stimme Gottes:
“O Moses, sage Mir! Warum hast du den Weizen gesät, um ihn später wieder zu ernten. Ist es nicht schade um den Weizen?”

 

Moses, der Friede sei auf ihm, antwortete:
“O Herr! Du weißt es am besten. Ich habe den Weizen geerntet, damit er nicht vergeudet wird. Denn die Frucht muss geerntet werden, sobald sie reif geworden ist. Sie verrottet wenn du sie am Ast hängen lässt.
Aus meiner Saat kamen sowohl Weizen als auch Stroh hervor. Deshalb trennte ich die Spreu vom Weizen, damit der Weizen nicht zusammen mit dem Stroh verkommt.

 

Ich habe verstanden, dass Erschaffung und Vernichtung nicht ungerecht sind, sondern in Wirklichkeit von Göttlicher Barmherzigkeit zeugen.”

 

Daraufhin erwiderte der Allmächtige:
“O Moses! Endlich hast du die Weisheit dahinter verstanden, warum Ich zuerst erschaffe und dann wieder vernichte.

Wisse, dass Ich mit Meiner Barmherzigkeit allem eine gewisse Lebensdauer gebe, während der es sich bis zur Vollkommenheit entwickeln kann. Egal ob diese Vollkommenheit letztlich erreicht wird oder nicht, am Ende werde Ich es vernichten und ihm ein anderes Dasein verleihen, in dem es entsprechend seiner Entwicklungsstufe ewig verweilen kann.

 

Deshalb steckt eine Weisheit darin, zunächst erschaffen und dann wieder vernichtet zu werden, so wie alles in der Existenz einen Sinn hat. Es ist eine Barmherzigkeit.

 

Nur die Dummköpfe und die Unverständigen leiden unter Sinn- oder Bedeutungslosigkeit. Für denjenigen, der jedoch die Wahrheit verstehen will, gibt es nichts, das keinen Sinn hätte.

 

Sprich nun, o Moses, wer hat dich das Wissen des Säens und des Erntens gelehrt? Du selbst kannst es ja nicht selbstständig gewusst haben? Wer hat dich den Unterschied zwischen einem Pflug und dem Weizen gelehrt?"

 

Moses antwortete:
“O Herr, dieses Wissen wurde mir von meinen Vorfahren überliefert und ich sah wie es die Menschen in meiner Umgebung, die Bauern und Dorfbewohner, taten.”

 

“O Moses! Und von wem erfuhren sie dieses Wissen?!”

 

”Zweifellos, o Herr, geht jedes Ende auf seinen Anfang zurück. Auch sie lernten es wiederum von ihren Vorfahren, die das Wissen dieser Welt von Adam empfangen hatten.”

 

”O Moses, und wer gab Adam all dieses Wissen? Waren das nicht Wir? O Moses, du weißt nicht, dass Wir den Engeln den Befehl, sich vor Adam nieder zu werfen, nur aufgrund dieser Göttlichen Weisheiten und dieses Göttlichen Wissens erteilten.

 

Denn Adam war der Wissende über all diejenigen, die nach ihm erschaffen werden sollten. Wir lehrten Adam, was wir die Engeln und Dschinn nicht lehrten.

 

Aus diesem Grund erschienen die Engeln und Dschinn angesichts Adams unwissend. Und wir ließen die Unwissenden sich vor dem Wissenden niederwerfen. Der Wissende ist stets über den Unwissenden.”

 

Daraufhin entgegnete Moses, der Friede sei mit ihm:
“O Herr, der Du die Menschen das lehrtest, was sie nicht wussten. O Herr, der Du mit Deiner Göttlichen Gnade und Großzügigkeit die Menschen nach Deinem Belieben sprechen lässt. Ich habe verstanden. Ich habe verstanden, dass du dieses Universum und den Menschen erschaffen hast, damit Deine verborgenen Geheimnisschätze nicht unerkannt bleiben.

 

Auch habe ich verstanden, dass Du Dein Erschaffenes niemals vernichtest, sondern in wahres Dasein überträgst.”

 

“Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden. Deshalb habe Ich die Schöpfung erschaffen”, heißt es in einem Gotteswort. Und wer den Herrn erkannt hat, der weiß, dass Er niemals vernichtet.

 

O Mensch, wisse: Alles in der Schöpfung besitzt entsprechend seines Verständnisvermögens eine Erkenntnis Allah`s.

 

Und eben diese Erkenntnis rettet sie vor dem völligen Nichtsein. Denn in der Existenz repräsentiert alles entsprechend seines Talentes und seiner Erschaffung den Herrn.

 

In allem manifestiert sich der Herr als Schöpfer und in dem Vers: “Blicke überall hin, stets wirst du Sein Angesicht erkennen” schildert Er, dass in der Existenz alles auf Ihn verweist.

 

Wer könnte da in diesem Falle ins ewige Nichtsein verdammt sein? Nein! Jedoch kann der Wert des Strohes nicht gleich dem Wert des Weizens sein. Der Weizen ist überlegen.
Aber auch das Stroh ist nicht ganz wertlos. So wie der Weizen für die Menschen einen hohen Wert hat, so nimmt auch das Stroh gleichermaßen für die Tiere einen hohen Wert ein, den jedoch nur die Tiere kennen.

 

So wie es nichts gibt, das entsprechend seines Verständnisvermögen den Schöpfer nicht kennt, so gibt es auch nichts Wertloses in der Existenz.

 

Daher kann nichts, nachdem es durch soviel Barmherzigkeit erschaffen wurde, wieder vernichtet werden.

 

Denn der Herr verkündet im letzten Testament, dass Er Sich in Seiner Barmherzigkeit zeigte, als er Adam erschuf.

 

Warum sollte Er ihn dann bestrafen und ins Nichtsein verdammen? Unmöglich! Es ist unmöglich, nicht weil der Allmächtige nicht dazu ihm Stande ist, sondern weil Er es nicht machen wird.

 

Warum?
Denn der Allmächtige gebietet: „Ich weiche nicht von Meinem Wort ab“. Deshalb wird etwas Erschaffenes niemals mehr ins Nichtsein zurückkehren. Verstehe