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Die Wahrheit der Träume

Sheikh Eşref Efendi | Berlin,  27.04.2006

 

Was ist die Wahrheit, was ist eine Erscheinung? Ist die Erscheinung etwas Greifbares? In dem Augenblick,  in dem wir die Erscheinung ergreifen, werden wir enttäuscht und fallen in eine Hoffnungslosigkeit, deren Ende nicht absehbar ist.  Wenn sich unsere Lebensenergie dem Ende zuneigt, bemerken wir, dass wir unser ganzes Leben damit vergeudet haben, Erscheinungen hinterher zu rennen. Und dann haben wir keine Kraft mehr, um voranzuschreiten, und stehen mit leeren Händen da. Ich frage euch: Denkt ihr wirklich, dass eine Erscheinung etwas Wahrhaftiges ist? Wenn es so ist, dann fangt sie euch! Da, jetzt haben wir sie gefangen! Wirklich? Wenn das, was ihr glaubt, heute gefangen zu haben, auch morgen noch in euren Händen ist, dann habt ihr sie wirklich gefangen. Wenn nicht, was habt ihr gefangen? Öffnet eure Hände und seht: Sie sind leer.

 

Im Kino gibt es große weiße Leinwände, auf die von einer für die Zuschauer nicht sichtbaren Person ein Licht projiziert wird. Dieses Licht inszeniert für die Zuschauer eine Scheinwelt voller Farben und lebendigen Bildern. Für einige Stunden fühlen sich die Menschen, als wären sie in einer wirklichen Welt. So sehr diese Welt voller Abenteuer und Action ist, bleibt sie nur eine Scheinwelt, deren Projektionszeit irgendwann abläuft. Das Licht auf der weißen Leinwand erlischt, die Vorhänge fallen und der Traum ist zu Ende.

 

Wieso ist das so? Es sind eine geheime Magie und die Illusion, die uns verzaubern. Doch jeder Zauber wird gelöst und die Wahrheit tritt hervor. Es fängt wie ein Film an, dauert ein, zwei oder drei Stunden und hört dann auf. Wenn also jede Projektion und Erscheinung von einer Illusion abstammt, was ist dann wirklich? Das einzig Wirkliche ist der Ort und die geheimnisvolle unsichtbare Person, die mit Hilfe des Lichts die Dunkelheit in Farben erstrahlen lässt. Denn jedes Licht scheint von etwas Wahrhaftigem und strahlt nicht von sich aus.

 

Warum erzählen wir das? Weil man mich fragt, ob Träume wirklich oder nur Illusionen sind, und ich frage: Warum fragt ihr mich danach? Wisst, hört und seht ihr nicht, dass es Wissenschaftler gibt, die darüber forschen, was Träume sind oder nicht. Fragt sie!

- Oh Sheikh, wir haben gefragt!
- Ja, und?
- Sie sagen, wir forschen noch.
- Na dann wartet doch.
- Mein Sheikh, Sie belieben zu scherzen.
Wir brauchen keine Forscher, sondern Wissende.

 

Sie sagen die Wahrheit! Unser Leben ist zu kurz, um zu warten! Womit und wie wollen sie das Produkt einer Welt des Unsichtbaren und Unbekannten erforschen?  Dafür reichen nicht ein und auch  tausend Leben nicht. Deshalb gibt es niemanden, der über das Phänomen Traum weder berichten noch es verstehen, geschweige denn erklären und wahrhaft deuten kann. Dies ist kein öffentlicher Abort, der für jedermann zugänglich ist. Dies ist ein heiliges Geheimnis und eine göttliche Gabe, die nur wahrhaftigen Dienern wie den Propheten und den Großen unter den Heiligen gegeben wurde und wird.

 

Es wird gesagt, dass es drei Arten von Träumen gibt:

- Göttliche Träume
- Teuflische Träume
- Träume, die aus der Phantasie oder
aus den Lügen der Menschen entstanden sind

 

Wenn diese drei unterschiedlichen Traumarten von einer nicht autorisierten Person gedeutet werden, kann es für den Träumer unheilvoll werden. Denn bis die Träume von der Vorstellungs- und Erscheinungswelt  am Endpunkt der Erfüllung, also in  der Welt der Bezeugung, angekommen sind, sind sie der Welt der Wahrheit sehr nahe und können somit viel stärker und schneller hör- und sichtbar auf den Menschen wirken.

 

Es verhält sich genauso wie in dieser Welt: Auch hier muss man sich zunächst eine Vorstellung über etwas machen, bevor man es in die Realität umsetzt. Denn die Ereignisse stellen sich einem immer zuerst vor, indem sie in der für einen selbst bestimmten Traumwelt in Erscheinung treten.

 

In dieser Welt, also in der Welt des Zeugnisses, haben die Träume mehr Kraft als die Worte. Bei vielen Menschen kann man sich den Mund  fusselig reden und sie akzeptieren trotzdem nicht, doch kaum sehen sie einen heftigen Traum, werden sie so beeindruckt, dass sie sofort angerannt kommen und rufen: Oh mein Gott! sagen sie. Sie haben Recht!

- Woher willst du das wissen?
- Es erschien mir im Traum.

 

Was Worte nicht erreichen können, vermögen Träume zu vollbringen. Den tapfersten Mann bringt ein Alptraum zum Schwitzen und Erzittern. Deshalb wird empfohlen, mit Wudhu (spirituelle Waschung) zu schlafen, um göttliche Träume zu sehen. Träume haben eine gefährliche Kraft, die den Verstand übersteigt. Deswegen wird gesagt, lasse deinen Traum weder von einem Lügner deuten noch erfinde einen Traum.

Der Heilige Prophet, Friede sei mit ihm, hat gesagt, dass ein wirklich spiritueller Traum der vierzigste Teil des Prophetentums sei. Wahre Träume eröffnen den Menschen Wege zu den himmlischen Sphären und Kontakte mit spirituellen Wesen. Während des Schlafes fährt unser Körper den Energieverbrauch so weit herunter, dass er nicht mehr hören und wahrnehmen kann, doch unsere Seele dagegen trifft auf unbekannte Kräfte, die unseren Verstand und die Physik überschreiten. Die Seele hört, sie sieht und fühlt mit allen Wahrnehmungen diese Kräfte durch Träume, so dass sie das ganze Geschehen zu leben bezeugt.

 

Diese Art von Träumen führt die Menschen durch die innere Welt zu den Pforten der Wahrheit und  ist behilflich bei der Öffnung der geheimen Siegel des Herzens, der inneren spirituellen Wahrnehmung. Das Prophetentum beginnt mit Träumen! Das erste Zeichen kam zu jedem Propheten durch Träume, dann durch Visionen, danach durch Engel und schließlich durch die Göttliche Offenbarung.

 

Wissenschaftler haben das Traumphänomen, das den Verstand übersteigt, akzeptiert und unentwegt erforscht. Manche Wissenschaftler haben es sogar geschafft, bis zum Anfangspunkt  des Prophetentums zu gelangen. Aber in die Welt der Geheimnisse der Propheten können sie mit ihren Forschungen und Gedanken nicht  gelangen. Um an die Geheimnisse der Propheten zu gelangen, muss man ein Prophet sein.

 

Nur eine Frau versteht eine Frau richtig und nur ein Mann einen Mann. Ein Kind weiß nicht, was es heißt, erwachsen zu sein, bis es erwachsen wird. Und um über Engel etwas zu wissen, muss man ein Engel sein, und so geht es weiter. So lange man nicht etwas ist, kann man nicht  dessen Geheimnis erlangen. Deshalb ist dieser Weg auf ewig verschlossen. Niemand kann ein anderer sein. Man kann nur so werden wie jemand, indem man dessen Weg beschreitet. Heilige sind wie Propheten, weil sie deren Wege auf die gleiche Art und Weise, ohne Wenn und Aber beschritten haben. Ihre Träume und Visionen sind denen der Propheten gleich und wahr. Während sie schlafen oder wach sind, erhalten sie stets Nachrichten aus den spirituellen Sphären, sie sehen die spirituellen Welten. Heilige verfügen über die gleiche spirituelle Kraft wie die Propheten, haben aber andere Geheimnisse. Denn jeder hat ein individuelles Geheimnis erhalten und es gibt kein Geheimnis, das doppelt oder mehrfach vergeben wird.

 

Einst hat der Heilige Prophet, Friede sei mit ihm, einen seiner Sahabe, Anhänger, gefragt:

„Oh Abdullah (r.a.), sag, in welchem Zustand bist du heute aufgestanden?“ „Oh Gesandter Allahs, dein Wort ist wahr! Ich habe die wahren Welten beobachtet und das Geheimnis über den wahren Glauben erhalten und bin in diesem Zustand aufgewacht. Man hat mir im Traum den Himmel mit all seinen unendlichen Schönheiten, die Hölle und die schmale Brücke über der Hölle, die Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts und die ganzen Menschenmengen gezeigt. Alles war so,  wie du es uns erzählt hast.“

 

Die spirituellen Sphären werden für Normal-Sterbliche durch Vorhänge verschlossen. Sollte es geschehen, dass diese Vorhänge für die Mürid, Schüler der Propheten und Heiligen, einen Spalt geöffnet werden, so erhalten sie etwas von den Weisheiten, die die Propheten und Heiligen erhalten haben.

 

Deshalb spielen Träume für Propheten und Normal-Sterbliche zu jeder Zeit eine sehr wichtige Rolle. Manche Träume sind sehr klar und deutlich und bedürfen keiner Deutung. Der Prophet Jakob, der Vater des Propheten Josef, Friede sei mit ihnen, hatte über einen gesehenen Traum verstanden, dass seine älteren Söhne seinem geliebten kleinen Josef ein Unheil antun werden und er Josef verlieren wird. Der Traum wurde wahr und Josef kehrte von einer Reise, die er mit seinen Brüdern begann, nicht zurück. Er wurde von ihnen in einen Brunnen geworfen. Jakob wurde über den Verlust von Josef so traurig, dass er so lange weinte, bis er erblindete. Die Träume der Propheten sind wahre Träume und erfüllen sich deshalb auch. Es gibt viele Träume, die einer Deutung bedürfen, aber einer richtigen. Ohne Deutung geht es nicht und mit einer falschen Deutung schon gar nicht.

 

Einst sah der Prophet Abraham, Friede sei mit ihm, drei Nächte lang den gleichen Traum, in dem er seinen Sohn Ismail ( Friede sei mit ihm) opfert, und verstand, dass dieser Traum wahr sei. Er brachte folglich seinen Sohn Ismail an einen stillen Ort, um ihn seinem Herrn zu opfern. Abraham versuchte drei Mal, Ismail zu opfern, doch das Messer schnitt nicht. Der Schmerz in Abrahams Brust wurde so heftig, dass dieser voller Wut das Messer gegen einen Felsen schlug und dieser wie von Zauberhand sich entzwei spaltete. Abraham war sehr verwundert über das Geschehen und im gleichen Augenblick erblickte er den Erzengel Gabriel, Friede sei mit ihm, mit einem Widder an den Hörnern gepackt, kommen. Gabriel sprach: „Oh Abraham, dein Schöpfer grüßt dich und verschont deinen Sohn. Du sollst nun anstatt seiner diesen Widder opfern. Denn wisse, Allah ist der Barmherzigste aller Barmherzigen.“

 

Der Allbarmherzige sagt im Koran:
„Abraham hat das Gesehene richtig gesehen und bestätigt.“

 

Wieso hat das Messer dann Ismail nicht geschnitten? Das Messer hat ihn nicht geschnitten, weil Abraham im Traum sah, wie er seinen Sohn opferte, und hat den Traum so akzeptiert, ohne ihn gedeutet zu haben, doch er hätte ihn vorher deuten müssen. Denn in Wirklichkeit stand Ismail in der Deutung für einen Widder. Der große Schöpfer hat mit seiner Barmherzigkeit Abraham seinen Fehler verziehen und ihm den Widder geschickt und somit den Traum selbst gedeutet und erfüllt.

 

In keinem Buch wurde die Wahrheit über das Geheimnis des Traumes Abrahams so eindeutig offenbart. Die Gelehrten nehmen die ganze Sache so, wie sie ist, und deuten es als eine Prüfung zwischen Abraham und seinem Schöpfer. Doch in Wahrheit ist alles nur so eingetroffen, weil der Prophet Abraham akzeptiert hatte, seinen Sohn zu opfern, ohne den Traum gedeutet zu haben.

 

Einst sah der Heilige Prophet Muhammed, Friede sei mit ihm, im Traum, dass er im Himmel Wein und Milch angeboten bekam und sich für die Milch entschied.


Der Erzengel Gabriel fragte ihn:
„Oh Gesandter Allahs, warum hast du dich so entschieden?“


Der heilige Prophet (s.a.v.) antwortete:
„Oh Gabriel, weißt du denn nicht, dass die Milch für Weisheit steht? Ich habe die Milch genommen, damit das Wissen mein wird.“ Deshalb ist  unter den Religionsgemeinschaften keine, der das Wissen über Himmel und Erde gegeben wurde wie der Religionsgemeinschaft Muhammeds (s.a.v.) und deshalb sagen wir, dass es auf jede Frage eine Antwort gibt. Wir sagen soviel von den ungehörten und unverstandenen Geheimnissen Allahs, wie er uns erlaubt.

 

Die Traumdeutung von Milch ist Wissen/Weisheit. Dann gibt es noch erlogene Träume, mit denen Ungläubige versuchen, Propheten und Heilige zu testen, ob sie es bemerken oder nicht. Sie wissen nicht, dass Propheten und Heilige es nicht nötig haben, sich zu beweisen. Eine Lüge ist nur für den Lügner wahr. Diese  ist für den Lügner eine Gefahr und kehrt als Unheil zur Mahnung an  ihn zurück. Wir leben in einer Welt voller Illusionen, doch die Illusionen, die man in Träumen sieht, sind in Wirklichkeit realer als die Illusionen, denen man in der materiellen Welt begegnet. Denn Geheimnisse, die durch Träume gezeigt werden, sind Geschehnisse, die in der materiellen Welt noch nicht angekommen sind.

 

Mit einem Wort: Wir leben in einer Welt aus Traumbildern. Wobei die Traumbilder, die wir in unseren Träumen sehen, in Wirklichkeit mehr Wahrheit aussagen als die Traumbilder in der materiellen Welt. Denn die durch Träume angekündigten Ereignisse sind solche, die in  der materiellen Welt noch nicht eingetroffen sind, so wie die Strahlen eines Filmes, die noch nicht auf die Leinwand treffen, um sichtbar zu werden.

 

Somit sind Träume der Welt der Wahrheit viel näher als der materiellen Welt, so wie die Lichtstrahlen des Filmprojektors dem Film näher sind als der Leinwand. Aus diesem Grund sollten die Menschen vernünftig mit ihren Träumen umgehen. Sie sollten nicht jeden Traum jedem beliebigen und unautorisierten Menschen zur Deutung erzählen. Denn wenn solch einer den Traum falsch deutet, könnte sich dies so auf das bevorstehende Ereignis auswirken, dass ein Heil sich zu einem Unheil umkehren kann. Fazit: Entweder lässt du die Traumdeuterei sein oder du findest einen Fachmann, der dir deinen Traum mit Sicht auf die wahre Welt deuten kann.Nach soviel Traumkunde lasst uns eine traumhafte Geschichte über einen Traum erzählen.  Der osmanische Sultan Murad Han III. wacht eines Nachts von einem sonderbaren Traum auf und schickt sogleich nach seinem Wesir.„Los, macht Euch bereit, mein Freund. Wir werden uns verkleiden und aus dem Palast nach draußen gehen.“

 

Vertrottet vom Schlaf und völlig erstaunt fragt der Wesir seinen Herrscher:
„Was ist denn passiert, mein Sultan? Worum müssen wir uns zu solch früher Zeit denn kümmern?“
„Ich habe etwas Seltsames geträumt.“
„Hoffentlich etwas Gutes.“
„Ob gut oder schlecht wird sich jetzt herausstellen. Gehen wir!“

 

Wie gesagt so getan, machen sich der Sultan und sein Wesir, verkleidet als arme Derwische auf den Weg. Als ob der Sultan wüsste, wohin er gehen wolle, schreitet er vorne weg und der Wesir bemüht sich, so schnell er kann ihm zu folgen. Nach einer langen Strecke quer durch Istanbul kommen sie endlich in einem kleinen Stadtviertel an, wo sie mitten auf dem Weg eine Leiche vorfinden.

 

"Wer ist diese Person?“, fragt der Sultan verwundert. Voller Ekel antworten ihm die Umherstehenden: „Er ist ein gottverdammter Trunkenbold und Freier! Haltet euch lieber fern von diesem Sünder, ihr ehrwürdigen Derwische.“ „Woher wisst ihr das?“, fragt der Sultan weiter. „Na sagen Sie mal, wir werden doch wohl in 40 Jahren unseren Nachbarn kennen gelernt haben. Im Grunde war er bis auf seine sündhafte Lebensweise ein guter Schuster. Eigentlich der beste hier weit und breit.“ „Woher dann diese Abneigung und der Ekel?“ „Er war eben kein guter Diener Gottes. Er war ganz und gar ein Sünder, ohne einen Hauch von Sittlichkeit und Moral. Sein ganzes Geld gab er für Wein und Frauen aus. Jede Nacht trug er Wein und Frau in sein Haus.“ „Ist das alles wirklich wahr?“, fragt der Sultan. „Wenn ihr uns nicht glaubt, könnt ihr auch die anderen fragen, ob sie den toten Schuster jemals in der Moschee oder Gemeinde gesehen haben. Aber das, was er nachts nach Hause trug, hat jeder gesehen.“ „Wir haben schon verstanden,“, sagt der Sultan, „doch soll nun seine Leiche hier liegen bleiben? Wird ihn denn niemand reinigen und bestatten?“ „Nein!“, ruft die gesamte Gemeinde, „wir werden diesen dreckigen Sünder nicht berühren. Er hätte zu Lebzeiten daran denken sollen, bevor er all die Sünden beging, dass auch er irgendwann sterben würde.“

 

Mit diesen Worten lassen sie die verkleideten Männer stehen und gehen fort. Da stehen sie nun, der Sultan, sein Wesir und die Leiche des Schusters. Der Wesir tippelt nervös hin und her, räuspert sich ein paar Mal, bis er dann scheu sagt: „Na dann, mein Sultan, wollen wir nicht auch langsam  wieder nach Hause gehen?“

 

Der Sultan wirft dem Wesir einen zurechtweisenden Blick zu und antwortet:

„Wohin willst du gehen, Pascha? Soll denn diese Leiche hier vor sich hin verwesen? Das Volk kann sich verantwortungslos  verhalten und auf und davon machen, wir aber müssen uns hierum kümmern. Schließlich war er unser Untertan, womit seine Leiche das Recht hat, standesgemäß bestattet zu werden.“ „Was machen wir nun?“ „Was heißt hier, was machen wir nun? Wir werden uns darum kümmern, indem wir schnell eine Moschee ausfindig machen.“ „Und wer wird die Leiche dahin tragen?“ „Siehst du hier außer uns beiden andere gutmütige Freiwillige? Natürlich werden du und ich sie tragen. Los, pack an!“ So tragen der Sultan und sein Wesir die Leiche des Schusters zu der nächstgelegenen Moschee, legen sie auf den Totenstein, und der große Herrscher höchstpersönlich  erweist ihr die letzte Ehre, indem er sie wäscht und ins Leichentuch wickelt. Gerade als er sich überlegt, wo man sie nun begraben könnte, meldet sich der schlaue Wesir zu Wort: „Mein Gebieter, ich befürchte, wir könnten einen Fehler begehen, wenn wir die Leiche jetzt sofort begraben. Es ist doch möglich, dass der Verstorbene eine Familie oder Nahestehende hat, die bei seiner Beisetzung gern anwesend sein würden. Sollten wir nicht wenigstens danach forschen, bevor wir ihn begraben?“

 

"Du sprichst Recht, mein Freund. Warte du hier bei der Leiche auf mich, ich werde mich mal umhören.“ Der Sultan arbeitet sich fragend zu dem Haus des Schusters durch, findet dort die alte Gattin vor und erzählt ihr, Beileid wünschend, die sonderbare Begebenheit um die Leiche ihres Mannes, die niemand bestatten wollte. Die Alte hört ihm voller Fassung zu, um dann auf den Boden  sinkend zu sprechen:

 

„Mein Sohn, mein Mann war kein schlechter Mensch und schon gar kein Sünder, wie die Leute über  ihn sagen. Er arbeitete jeden Tag hart und emsig wie eine Ameise. Und wenn er abends auf dem Heimweg jemanden mit einer Weinflasche sah, kaufte er sie ihm mit dem schwer verdienten Geld ab, um sie dann zu Hause in die Toilette zu schütten.“

 

„Sieh mal einer an!“ rief der als Derwisch verkleidete Sultan, „und was sich die Leute für dummes Zeug zusammenreimen.“ „Mein Mann legte nie Wert auf die Meinung der Leute. Er war ein fürsorglicher Bürger und Gottesdiener. Seine Nächstenliebe ging so weit, dass er das wenige Geld, das er leidvoll in seinem Alter verdiente, dafür ausgab, Trinkern ihren Wein abzukaufen, um sie am Trinken zu hindern, und Dirnen von der Straße zu uns nach Hause holte, damit sie nicht sündigen, sondern in der für sie bezahlten Zeit von mir auf den rechten Weg besprochen werden.“ „Es heißt, er ginge niemals in die Moschee, um zu beten?“, fragte der Sultan weiter.

 

„Damit die Leute hier nicht hinter sein Geheimnis kämen, ging er immer zum Gebet in eine sehr weit entfernte Moschee,  in der man ihn nicht kannte. Wie gesagt, mein Mann war ein sonderbarer und geheimnisvoller Mensch. Ich hatte ihn davor gewarnt, seine Nachbarn in ihrer Täuschung zu belassen. Eines Tages sagte ich sogar zu ihm: Herr, du handelst rein, aber warum verheimlichst du die Wahrheit vor unseren Nachbarn?

 

Sie kennen dich als so unsittlich und sündhaft, dass sich niemand finden wird, der deine Leiche bestattet und für dich betet, wenn du stirbst.“ „Und was hat er darauf geantwortet?“, fragt sie der große Herrscher neugierig. „Er sagte, dass er schon niemandem zur Last fallen werde, und fing an, im Voraus sein eigenes Grab hier im Garten  zu schaufeln. Doch ich wies ihn darauf hin, dass das ja nicht alles sei, dass jemand ihn ja auch waschen und bestatten müsse.“

 

„Was sagte er denn hierauf?“, fragte der Sultan noch neugieriger. „Zunächst lachte er eine Weile ergiebig und herzhaft. Darauf sagte er: Mach dir mal keine Sorgen, Frau. Allah ist allmächtig, Er wird schon jemanden schicken. Dann schwieg er kurz wie sinnend, bis er dann fortfuhr:Und außerdem, was hat der große Sultan schon so Wichtiges zu tun? Soll er sich doch bequemen, sich um meine Bestattung zu kümmern und mich beizusetzen.“

 

Dies ist eine wahre Begebenheit. So wie zuvor die Propheten ihre göttlichen Eingebungen und Befehle im Traum erhielten und diesen folgten, so wurde auch der Sultan auf seltsame Weise zu dieser Begebenheit angehalten und geführt. Es kann schon mal vorkommen, dass sogar so große Herrscher wie Murad Han III. von ihrem Thron herabbeordert und zu den Füßen eines Heiligen geführt werden. Möge der Herr uns ein richtiges Verständnis geben. Danke für das Zuhören. Seid gesegnet